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Chancen in Hülse und Fülle

Müssen wichtige Themen wie Work-Life-Balance, wertschätzende Kommunikation und Soft Skills zu gehypten Worthülsen werden?

Manchmal kommt es mir vor, als wären sehr wichtige Themen, Probleme und Lösungsansätze der modernen Arbeitswelt zu Worthülsen verkommen. Begriffe wie Work-Life-Balance oder Wertschätzung werden schnell von zu vielen Menschen in den Mund genommen, ohne verstanden oder ernst gemeint zu werden. Ohne, dass man sie differenziert betrachtet und bespricht. Und ohne dass man sich ihnen nachhaltig verpflichtet. Unternehmer, Führungskräfte, Journalisten, Trainer, Personalentwickler greifen sie auf, als seien sie eine kurzfristige Medizin oder ein Gebot dem man schon lange folge. Und als würden wir alle natürlich das gleiche darunter verstehen, ohne uns ernsthaft damit beschäftigt zu haben. 

Ich hoffe, dass mein Eindruck mich täuscht. Denn es gibt sehr viele Aspekte in diesen Themen, die noch besser erforscht, verstanden und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Zur Work-Life-Balance gibt es z.B. ein Modell von Prof. Lothar Seiwert, nach dem man seine Zeit prozentual auf Bereiche Arbeit, Körper, Sinn und Kontakt einteilen kann. Damit einher geht die Empfehlung, auf den Arbeitsteil dauerhaft nicht mehr als 60% seiner Zeit einzusetzen. Die Einteilung ergibt auf Anhieb Sinn: Zeit für den Körper (Sport, Schlaf, richtige Ernährung) einzusetzen, seine sozialen Kontakte (Familie und Freunde) nicht zu vernachlässigen und sich über seinen eigenen Sinn, seine Ziele und Werte Gedanken zu machen, das alles würde ich jedem unbedingt nahelegen. Kann es eine durchschnittliche Formel geben, die für die Mehrzahl von uns anwendbar ist? Und ist es damit getan – vermeide ich damit schon automatisch Stress und Überlastung? Das ist zu durchleuchten, dafür braucht es Langzeitbeobachtungen unter wissenschaftlichen Bedingungen.

Außerdem ist ein weiterer Schlüssel zur Erreichung von Höchstleistungen bei Vermeidung von Stress gerade das Zusammenbringen der Bereiche Sinn und Arbeit. Die beiden Aspekte stehen im Modell von Prof. Seiwert einander gegenüber. Größeren persönlichen Erfolg haben die, bei denen Arbeit und Sinn Hand in Hand gehen. Die ihre Bestimmung erkannt haben und dieser beruflich nachgehen und dadurch Erfüllung und Zufriedenheit erfahren. John Strelecky hat mit seinem fiktiven „The Big Five for Life“ ein großes Plädoyer dafür geschrieben, danach zu streben, nur die Arbeit auszuüben, mit der man sich so sehr identifiziert, dass man sie am Ende des eigenen Lebens groß und gut ausgeleuchtet im eigenen Museum ausgestellt haben möchte.

Das widerspricht nicht dem Gedanken Prof. Seiwerts, dass wir uns für beide Bereiche unabhängig voneinander Zeit nehmen sollen. Sich diesen Themen aus den unterschiedlichen Richtungen zu nähern, ihre Verzahnungen zu verstehen und Widersprüche aufzudecken, das bleibt alles wichtig, für ein leistungsfähiges Miteinander.

Und dann ist da auch die ERI, die Effort-Reward-Imbalance nach Johannes Siegrist, von der ich an dieser Stelle schon schrieb. Wenn ich die Arbeit ausübe, die meiner Bestimmung entspricht, die sich mit meinem Sinn des Lebens deckt und wenn ich mich selbst so gut manage, dass meine Arbeitszeit zu meinen anderen Lebensaspekten in der richtigen Balance ist, dann gibt es immer noch weitere Einflussfaktoren auf meine Leistungsfähigkeit. Dann kann immer noch der Einsatz und die Belastung auf einen Mangel an Feedback, Wertschätzung und Gestaltungsspielraum treffen. Ich kann immer noch in eine Burnout-Spirale geraten.

Die Themen bleiben also aktuell und komplex. Der immer schnellere Wandel unserer Arbeitswelt macht es notwendig, dass wir uns diesen Themen widmen und sie uns zu Herzen nehmen. Sie dürfen nicht zu leeren Schlagwörtern verkommen.

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