Lieber unter Mordverdacht
In der Kommunikation zwischen zusammen arbeitenden Menschen ist weniger fast niemals mehr.
Ruth Cohn* hat einst in Bezug auf die Kommunikation zwischen Menschen gesagt: „Zu wenig geben ist Diebstahl, zu viel geben ist Mord.“ Wenn ich mir die ausufernden und ziellosen Meetings in Unternehmen ansehe und die E-Mailflut, die jeden Tag tausende von uns überrollt, dann klingt dieses Zitat sehr plausibel und passend auf unseren heutigen Arbeitsalltag.
Wenn ich mir ansehe, wie häufig Menschen im Arbeitsalltag mit Enttäuschungen, unklaren Zielen, Konflikten, unbekannten Erwartungshaltungen zu tun haben, dann entsteht ein anderer Eindruck: dass die Menschen nicht genug miteinander reden. Dass sie es noch nicht schaffen, durch den Ausdruck eigener Meinung und Haltung, für Klarheit zu sorgen. Deshalb trete ich regelmäßig dafür ein, das Unausgesprochene heraus zu holen. Gedanken, Erwartungen und auch Gefühle offen auszusprechen führt zu Klarheit.
Bitte nicht über Gefühle sprechen, wir sind hier bei der Arbeit.
Über Gefühle reden wir am Arbeitsplatz am Liebsten gar nicht erst. Doch sie sind da. Eigene Ideen und Meinungen sind da, auch wenn keiner sie ausspricht. Und sie wirken auf das ein, was wir tun. Darum stehe ich viel lieber unter einem „Mordverdacht“ zu viel gegeben zu haben. Und ermutige alle dazu, mit denen ich arbeite. Das Risiko, zu wenig zu geben, ist oft um ein Vielfaches höher. Denn es führt zu weniger Klarheit, Hidden Agendas, Unzufriedenheit und Cliquenbildung.
Das gilt auch und ganz besonders in Veränderungsprozessen, wenn ein große Menge Menschen sich wie von Zauberhand in eine andere Richtung bewegen sollen. Wenn Sie dann lieber Dieb als Mörder sind, vergrößert und erschwert sich die Aufgabe massiv.
Was denn jetzt – zuviel oder zuwenig Kommunikation?
„Wenn ich eh schon den ganzen Tag in Meetings sitze und dazwischen meine 150 Mails checke, dann wollen Sie auch noch, dass ich noch mehr mit den Leuten spreche?“ Ein Rat zu „einfach noch mehr“ hat wahrscheinlich noch nie ein Problem gelöst. Stellen Sie und Ihre Kollegen sich regelmäßig die Frage, ob Sie genug über die richtigen Dinge reden?
Wenn ein Unternehmen ein Problem mit zu vielen E-Mails hat, etablieren Sie Regeln dafür. Wenn Ihre Sachmeetings ausufern, vergeben Sie feste Redezeiten oder führen die Meetings im Stehen aus. Verzichten Sie nicht auf wirklich offene Gespräche, die in Ihrem Unternehmen oder Ihrem Team für Klarheit sorgen. Das sind Gespräche über Erwartungshaltungen, nicht fundierte Annahmen, über das Miteinander umgehen. Und ja, über Gefühle.
Wie hat Frau Cohn das genau gemeint?
Umgemünzt auf Kommunikation haben andere ihr ursprüngliches Zitat. Ruth Cohn hat es konkret auf das Loben von Kindern im Lern- und Lehrprozess bezogen. Sie hat auch beschrieben, das ungünstige Verhaltensweisen eines Kindes leichter umgewöhnt werden können, wenn das Kind zu viel gelobt wurde. Und das zu wenig Lob einen nachhaltigeren negativen Effekt hat. Insofern auch hier: stellen Sie mich gerne unter Mordverdacht. Doch ein Dieb zu sein, ist hier die „schlechtere Rolle“.
* Ruth Cohn (1912-2010) war eine wegweisende deutsche Psycho-Analytikerin und Begründerin der themenzentrierten Interaktion (TZI), die in den USA, der Schweiz und Deutschland gelebt und praktiziert hat.
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